Warum Kinder Märchen brauchen

Neurobiologische Argumente für den Erhalt einer Märchenerzählkultur

 

Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe und Hirnforscher

 

Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das ihr Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören lässt, das gleichzeitig seine Fantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus auch noch befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen, das gleichzeitig auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen lässt. Dieses Superdoping für Kindergehirne gibt es. Es kostet nichts, im Gegenteil, wer es seinen Kindern schenkt, bekommt dafür sogar noch etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen. Märchenstunden sind die höchste Form des Unterrichtens. 

 

Das Lernen funktioniert bei Kindern (wie bei Erwachsenen) immer dann am besten, wenn es ein bisschen „unter die Haut geht“, wenn also die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden und all jene Botenstoffe vermehrt gebildet und freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern. Eine Möglichkeit, einen solch offenen, für das Lernen optimalen Zustand zu erreichen, ist das Spiel, in dem Kinder sich und die Welt entdecken. Eine andere, bei der Kinder lernen, etwas über die Welt und das Leben zu erfahren, ist die Märchenstunde.

 

[...]Aber das ist noch nicht alles, denn im Gehirn derjenigen, die diese Märchen den Kindern erzählen oder vorlesen, passiert ja auch etwas.  In seinem oder ihrem Gehirn werden alte Erinnerungen wach, nicht nur Erinnerungen an den genauen Inhalt der Geschichte, sondern vor allem Erinnerungen daran, wie es damals war, als einem als Kind diese Märchen vorgelesen worden sind. Dann wird die Atmosphäre von damals wieder wach, das schöne Gefühl, die Erfahrung der intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. Oft kommen sogar die alten Körpergefühle wieder, das Kuscheln, Schaudern und Kribbeln und der Sessel, das Sofa oder das Bett in dem einem die Märchen vorgelesen wurden. 

 

All das taucht erneut ganz deutlich spürbar aus dem im Hirn abgespeicherten Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil sie im Allgemeinen solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen wachrufen, machen die alten Märchen 

auch uns Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise wieder stark. Die innere Unruhe, die Sorgen und Ängste verschwinden. Man fühle sich dann irgendwie besser, gestärkter und zuversichtlicher, mutiger und befreiter, gleichzeitig gefestigter und verwurzelter. Märchen sind also auch Balsam für die Seelen von Erwachsenen.

 

Aber das ist noch immer nicht alles. Märchen transportieren nicht nur Geschichten, sondern auch die dazugehörigen Bilder, die in ihnen enthaltenen Botschaften von den Erwachsenen einer bestimmten Familie, Sippe, Gemeinschaft, also letztlich eines bestimmten Kulturkreises zu den in diesem Kulturkreis hineinwachsenden Kindern. Sie schaffen so eine gemeinsame Plattform von Vertrautem und Bekanntem, von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gestaltetem und innerhalb dieser Gemeinschaft sich ausbreitendem Wissen. Sie wirken daher Identität-stiftend und festigen auf diese Weise den Zusammenhalt einer Gemeinschaft.

 

Mit anderen Worten: Märchen sind auch Kitt für den Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft.

 

[...]Wenn keine Märchen mehr erzählt würden...

Damit nun auch diese Frage klar beantwortet werden kann, brauchen wir uns nur umzuschauen, 

und zu fragen, was passiert, wenn Kinder zu viel von dem bekommen, was sie haben wollen und 

zu wenig von dem, was sie brauchen. Schon das ungeborene Kind macht im Mutterleib Erfahrungen, die in seinem Gehirn dazu führen, dass die Nervenzellen bestimmte Verschaltungsmuster miteinander ausbilden. Die werden dann später als innere Repräsentanzen, als „Erinnerungsbilder“ benutzt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dabei werden diese einmal entstandenen Muster ergänzt und erweitert. 

 

Da es sich bei all diesen im Gehirn verankerten Erfahrungen um typisch menschliche, von diesem Kind gemachte Erfahrungen handelt, bildet sich auf diese Weise das heraus, was wir „menschliche Individualität“ nennen. Alle Säugetiere, ja sogar Vogelküken im Ei machen auch schon spezifische Erfahrungen, bevor sie auf die Welt kommen. Bei Hühner- oder Entenküken ist das gut zu beobachten. Bevor sie schlüpfen „unterhalten“ sie sich bereits mit ihrer Mutter. Sie piepsen aus dem geschlossenen Ei heraus und die Mutter antwortet ihnen. Wenn sie auf die Welt kommen, haben sie also auch schon eine Individualität, keine menschliche sondern eben die eines Enten- oder Hühnerkükens.  

 

Bei Singvögeln, z.B. bei den Nachtigallen, reift später, wenn die kleinen Vögel noch im Nest sitzen, das sog. Gesangszentrum in ihrem Hirn aus. Hier bilden die Nervenzellen zunächst ein dichtes Gestrüpp an Vernetzungen und Verschaltungen aus. Immer dann, wenn der Vater in der Nähe des Nestes seine Lieder singt, entsteht in diesem Wirrwarr von Verschaltungen ein durch das Hören des Liedes ausgelöstes charakteristisches Aktivierungsmuster. Je häufiger das geschieht, desto fester werden die dabei aktivierten Nervenzellverschaltungen miteinander verbunden, und je komplexer 

der Gesang ausfällt, desto komplexer können die auf diese Weise stabilisierten inneren Repräsentanzen herausgeformt werden. 

 

Alle anderen nicht benutzten Verschaltungen werden wieder abgebaut. Was übrig bleibt, ist ein bestimmtes, durch das Hören des Gesangs herausgeformtes, diesen Gesang repräsentierendes neuronales Verschaltungsmuster im Gesangszentrum des Nachtigallengehirns. Damit diese Verschaltungen herausgeformt und stabilisiert werden können, muss der Vater in der Nähe des Nestes singen, möglichst oft, möglichst kunstvoll und fantasiereich - und ungestört durch Nebengeräusche (deshalb singen Vögel, die so komplizierte Gesänge wie die Nachtigallen an ihre Jungen weitergeben müssen, nachts, wenn alle anderen still sind). Und damit die Jungen 

diesen Gesang auch wirklich in sich aufnehmen können, darf natürlich nicht ständig jemand kommen und im Nest herumrühren. Wenn die Nachtigalleneltern ihnen ihre Lieder nicht mehr ungestört vorsängen, würde also genau das verschwinden, was die Nachtigall ausmacht. 

 

Und wenn wir uns entschließen würden, unseren Kindern keine Märchen mehr zu erzählen, verschwände eben all das, was durch das Märchenerzählen stabilisiert wird. Und wer vergessen hat, was das ist, der muss noch einmal von vorn anfangen.